Ingo Hiller hat Glück. Denn wenn er morgens das Fenster öffnet, bahnen sich die ersten Strahlen des Sonnenaufgangs zwischen waldbewachsenen Hügeln und grünen Tälern direkt in sein Schlafzimmer. Die Bienen summen noch etwas verschlafen und tingeln um die Blüten von prächtigen Blumenkronen. Es ist 6:30 Uhr morgens und damit auch an der Zeit für ihn, seine Rinder zu füttern. Ingo hat nämlich einen der schönsten Berufe der Welt – er ist Landwirt auf der Schwäbischen Alb.
Sieben Geschichten aus dem Biosphärengebiet
Menschen aus dem Biosphärengebiet erzählen über ihre Arbeit, ihre Motivation und über ihren Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung
Wenn Wildpflanzen Strom erzeugen
Für Ingo ist der Beruf ein Kindheitstraum, den er sich 2005 selbst erfüllt hat. Mittlerweile gehört zu seinem Unternehmen rund 200 Hektar Gelände, davon 123 Hektar Acker- und 77 Hektar Grünland, er hat eine Rindermast und eine Biogasanlage. Somit gibt es immer viel zu tun. Sein Tagesablauf ist geprägt von Routinen und manchmal auch vom Wetter. Nach dem Aufstehen geht es direkt zu den Rindern, die schon auf ihr Futter warten. Danach mit dem Traktor über die Äcker der Schwäbischen Alb. Darauf folgen Stallarbeiten, Futterbergung und Reparaturen im Hof. Die Abende verbringt er oft mit Buchhaltung oder anderer Büroarbeit. Was sich festgefahren anhört, erfüllt ihn trotzdem täglich mit Freude, da er den Großteil seiner Arbeit an der frischen Luft ca. 800 Meter über dem Meeresspiegel ausführen kann: „Wie überall gibt es auch bei uns Landwirten anstrengende und ruhige Tage. Es gibt Momente, in denen wir die wunderschöne Natur des Biosphärengebiets genießen und uns freuen, dass wir in und mit ihr arbeiten dürfen. Und dann gibt es wiederum Tage, an denen wir die unmittelbaren Folgen von Klimawandel und Wetterkatastrophen erfahren müssen und uns Sorgen machen, wie wir unsere Tiere satt bekommen“, so Ingo über seine gemischten Gefühle als Landwirt. Genau deshalb ist es ihm eine Herzensangelegenheit, die Zukunft des Biosphärengebiets mitzugestalten. „Ich war von Anfang aktiv mit dabei im Beirat des Biosphärengebietsvereins als Vertreter für die Landwirtschaft. Ich habe das Biosphärengebiet sogar schon einige Male repräsentiert und freue mich, dass ich auch in Zukunft mit dem gemeinsamen Projekt „Bienenstrom" einen Beitrag zum Fortbestand unserer biologischen Vielfalt leisten werde“, berichtet er über sein regionales Engagement.
Ungefähr die Hälfte der gesamten Fläche des Biosphärengebietes wird landwirtschaftlich genutzt – durch Ackerbau, Grünland oder die Streuobstwiesen. Bei dem Projekt „Bienenstrom“ geht es genau darum, diese Flächen als Quelle für eine regionale Stromgewinnung zu nutzen. Gestartet wurde es 2018 von der Stadtwerke Nürtingen GmbH in Kooperation mit der Geschäftsstelle Biosphärengebiet Schwäbische Alb, um Bienen, Wildbienen und anderen Insekten auch auf Ackerflächen Lebensraum und Nahrung zu bieten und so dem Insektensterben entgegenzuwirken.
Wie das geht? Ganz einfach. Die Verbraucherinnen und Verbraucher können bundesweit mit einem Aufpreis von einem Cent pro Kilowattstunde bei den Stadtwerken Nürtingen den Ökostromtarif „Bienenstrom“ bestellen. Dafür sät die Landwirtin oder der Landwirt einen Teil seiner Mais- oder Getreidefläche mit Wildpflanzen ein, die Lebensraum für Insekten bilden. Diese Wildpflanzen werden dann in Biogasanlagen zu Strom gemacht. Da die Wildpflanzen wesentlich weniger Ertrag als beispielsweise Mais bringen, werden die teilnehmenden Landwirte durch den genannten Aufpreis unterstützt. Bereits 650 Haushalte und einige Gewerbekunden haben sich für den Bienenstrom-Tarif entschieden, dadurch sind allein auf der Schwäbischen Alb rund 27 Hektar oder umgerechnet 270.000 Quadratmeter Blühfläche entstanden – Tendenz steigend. Welchen vorbildlichen Charakter diese Idee hat, zeigt sich z.B. daran, dass es inzwischen bundesweit Blühpaten von Bayern bis nach Niedersachsen gibt.
„Als Landwirt lebe und arbeite ich in und mit der Natur. Die Insekten sind Teil des Ökosystems – ohne sie funktioniert alles nicht mehr und bricht zusammen. Das Projekt zielt also nicht nur auf den Schutz der Artenvielfalt ab, sondert sichert auch den Beruf von uns Landwirten hier“, so Ingo über die Hintergründe von „Bienenstrom.“
Ingo Hiller
Nach getaner Arbeit hängt er den grünen Overall an den Haken, schlüpft in seine Hausschuhe und macht sich einen Kaffee. Philosophierend steht er vor seinem Fenster und lässt die vielen Gespräche mit seinen Mitmenschen Revue passieren. Es scheint so, als wäre durch seine Projekte mehr Sensibilität für das Thema erlangt worden. Für die Zukunft wünscht er sich weitere innovative Projekte im Biosphärengebiet, die den Namen der Schwäbischen Alb noch weiter nach außen tragen können. Bis dahin steht er jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf und geht als gutes Vorbild voran.
Alle 7 Geschichten
erzählt von Menschen aus dem Biosphärengebiet